Nach meinen häufigen Besuchen in Kanada, kann ich es mir nicht verkneifen, ein paar wohlwollende Worte über Land und Leute zu verlieren. Zunächst möchte ich feststellen: Ein netter Kerl ist er, dieser Kanadier.
Meistens ist er über 1,86 groß und im Allgemeinen quadratisch, das Gebiss, sein Lächeln, der Hals, die Backenknochen und seine Muskelpartien, sogar sein Hintern. Stets ist er frisch geduscht, riecht nach Harz, Erde oder frischem Gras, er ist gut gelaunt und immer zu einem freundlichen Wort aufgelegt – außer wenn sein Lieblingsverein ein Spiel im Eishockey verloren hat oder seine Huskys Durchfall haben.
Da kann der Kanadier verdammt ruppig werden. Aber das kommt selten vor, denn die Lieblingsvereine sind meistens diejenigen, die gewinnen und seine Hunde bekommen als Mahlzeit nur Fillets vom Rind. Alles andere würde zu oft schlechte Laune bereiten. Bei widrigen Ereignissen oder kleinen Ärgernissen geht er in den Wald und fällt mit der Axt ein paar Mammutbäume. Hat er genügend Kleinholz, geht es ihm wieder gut. Ein echter Kumpeltyp mit dem Hang zur Wildnis und üppigen Holzscheiten für sein Lagerfeuer an einem Wasserfall. Dort grillt er sich in der Regel ein Steak und plaudert mit Bärenmütter.
In Kanada, das fällt jedem Europäer sofort auf, sind die Leute drei Viertel des Tages gut drauf. Die Kanadier freuen sich, dass Menschen aus aller Welt bei ihnen wohnen und zu ihnen gehören wollen. Sie werten das als ein Kompliment an ihr Lebens-Niveau, im Gegensatz zu den Deutschen, die misstrauisch werden, wenn man ihren Lebensstil bewundert und neuerdings Millionen Besucher aus südlichen Regionen in Deutschland bleiben wollen. Doch kehren wir zum Thema zurück.
Wo immer der Kanadier auf einen Menschen trifft, hebt er kurz die Hand zum Gruß und wirft ein schwungvolles „Hi“ auf die andere Straßenseite. Die kennen sich alle, so scheint es. Und sie mögen sich. Vor lauter Offenheit grüßen sie sogar Wildfremde, auch Deutsche, die manchmal erst vor einer knappen Stunde mit dem Flugzeug gelandet sind und in dieser kurzen Zeit definitiv noch nicht allzu viele Freundschaften haben schließen können.
In Kanada gibt es eine kleine radikale Gruppe, die sich weigert, englisch zu sprechen, und keiner kann sie verstehen. Amerikaner nennen sie Separatisten. In den USA haben sie genau das gleiche, aber dort nennt man sie Volkswirte und Rechtsanwälte. Es handelt sich dabei um Lebensformen, die all jenen, denen sie hilfreich zur Seite stehen, bis auf den letzten Cent ausnehmen oder in den Bankrott treiben.
Und wieder anders als der Amerikaner würde er sich verdammt gut an die Verabredung oder die Idee erinnern, käme man auf das Angebot zurück. Sagt ein Amerikaner: „Wir telefonieren“ oder „Wir gehen mal essen“, muss man jeden weiteren Kontakt mit ihm vermeiden. Unbedingt! Ein Amerikaner würde sich garantiert niemals erinnern, wenn man sich bei ihm meldete oder jemals eine Einladung ausgesprochen zu haben.
Ganz anders dagegen ist die Kanadierin! Im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant liest sie viel und bildet sich, reist andauernd nach Europa und findet deutsche und italienische Männer phantastisch. Im Gegensatz zu ihrem Mann besitzt sie kein Kanu und auch keinen Hundeschlitten, betreibt aber stattdessen Freeclimbing in den Schweizer Alpen und stürzt sich, nachdem sie die Eiger Nordwand mehrmals bestiegen hat, auf einen romantischen Franzosen oder virilen Italiener, vor allem des persönlichen Genusses wegen.
Gleich darauf schnallt sie sich ihr Snowboard an die Füße und rast damit mehrmals durch die Kitzbüheler Klamm. Im Sommer schwimmt die Kanadierin auf irgendeinem Sportereignis einen Weltrekord im 200 Meter Brust oder springt von der Europabrücke mit dem Bungee-Seil neunzig Meter in die Tiefe. Sie könnte das genauso gut von der Golden Gate machen, aber wie schon erwähnt, auch Kanadierinnen mögen keine Amerikaner.
Kanada ist ein aufregendes Land und die Einwohner wissen das. Der herkömmliche Kanadier lebt in zwei gegensätzlichen Welten und würde keine von beiden missen wollen. Er liebt sein Hochhausappartement in Vancouver, Toronto oder Calgary, modernste technische Spielereien, das ausschweifende Nachtleben, die Shopping-Vielfalt und seine zwölf Huskies.
Am liebsten würde er abends vor seinem Wolkenkratzer ein Lagerfeuer entfachen und zusammen mit seinen Freunden selbst geangelten Lachs grillen. Weil das von allen gewollt, aber trotzdem nicht so gerne gesehen wird, fährt der Kanadier am Wochenende in die Natur – es sei denn, er lebt ohnehin schon in der Wildnis. Dann fährt er am Wochenende in die Stadt. Schon deshalb tifft man sie nie dort an, wo man sie gerade vermutet.
Überraschend ist für den Europäer die Ankunft in diesem Land, besonders, wenn er mit dem Auto von den USA kommend die kanadische Grenze überquert. Hat der Tourist in Oregon aus dem breiten Sortiment amerikanischer Souvenirindustrie chinesischen Plunder, zuckersüßen Kaugummi, das Empire State aus Knetmasse oder eine Baseball-Mütze der Chicago Bulls wählen dürfen, erwarten ihn in Kanada qualitativ hochwertige Waren, die teilweise europäische Ansprüche übertreffen. Darauf ist der Kanadier stolz. Dennoch, unangenehm ist für ihn der Umgang mit Ausländern aus dem alten Europa, weil er keine historischen Städte hat.
Er fühlt sich irgendwie unterlegen und verkennt völlig, dass Besucher aus Übersee nicht in sein Land kommen, um dort Ruinen aus der Antike oder Burgen zu suchen. Der gemeine Europäer kommt, weil er Menschen und Landschaften liebt. Offenbar entsteht dieser Minderwertigkeitskomplex, wenn man in 150 Jahre alten Städten aufwächst und das betagteste Gebäude eine siebzig Jahre alte, baufällige Scheune ist.
An vielen Stellen wurden Holzstadel-Museen zu Miniblockhäusern errichtet, die angeblich allesamt von Trapper Joe oder Lederstrumpf umgebaut wurden, die vor knapp einem Jahrhundert als erste überseeische Entdecker in die kanadische Wildnis vorgestoßen sind. Dort haben sie dann den Irokesen und anderen martialischen Indianerstämmen kistenweise billigen Fusel angedreht. Ja, so isser, der Kanadier.
Dabei hätte der Kanadier so viel Historisches, würde er sich nicht auf Urgroßvaters erstes selbstgekauftes Buch oder Omas handgehobelte Kommode aus den 30ern berufen, sondern auf seine Indianer. Schließlich ist so ein Irokese der wahre Urkanadier. Aber statt stolz auf den Kerl mit dem eigentümlichen Haarschnitt zu sein, hat er mit den wilden Kerlen prinzipiell seine Probleme, weil die völlig anders ticken als er.
Irgendwie ist der Indianer immer eine Rothaut geblieben, – „nie einer von uns geworden“ -, sagt mir ein Einheimischer, obwohl er schon lange nicht mehr mit Pfeil, Bogen und Adlerfedern im Haar durch den Wald schleicht, sondern im Karohemd durch die Großstadtschluchten joggt, dabei andauernd Fremde grüßt, beide dieselben Sehnsüchte teilen und abends am liebsten vor dem Hochhaus-Appartement am Lagerfeuer hocken würden.
Die Indianer sind dem Kanadier wahrscheinlich nur deswegen suspekt, weil er ständig seine indianische Herkunft betont und behauptet, er treibe sich schon seit ein paar tausend Jahren hier herum. Damit macht er dem herkömmlichen Kanadier permanent ein schlechtes Gewissen, vor allem auch deshalb, weil er andauernd und hartnäckig vor irgendwelchen Gerichten um „Land-Claim Agreements“ klagt.
Das ist unfair, widerspricht mein kanadischer Freund, zumal die kanadische Geschichte und alles, was damit zu tun hat, wahnsinnig lang her sei und der Indianer vor 150 Jahren immerhin einen Berg Glasperlen und jede Menge Schnaps für die ewigen Jagdgründe bekommen hat. Was der Kanadier dem Indianer aber wirklich nachträgt, ist die schlechte Bauqualität seiner ledernen Behelfsquartiere, mit denen er Jahrhunderte lang auf den Spuren des Bisons durch die Prärie zog.
Hätte der Indianer
an Stelle windiger Zelte ein wenig stabiler gebaut, Blockhütten oder Hochhäuser beispielsweise
-, hätte man heute etwas für die Ewigkeit, was man dem Fremden zeigen könnte.
Gegenseitig schwierig finden könne man sich ja trotzdem, auch wenn beide
täglich ein paar hundert Leute grüßen.
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