In
Deutschland und insbesondere in der Politik tut man gern so, als habe man alles
im Griff – bis sich das Problem nicht mehr verheimlichen lässt. Es gehört zum
guten Ton, sämtliche Widrigkeiten, Fehler, Irrtümer so dramatisch zu
bagatellisieren, bis auch der letzte Dödel auf dem Land begriffen hat:
Deutschland ist lebenswert wie es ist. Die Wahrheit gibt es grundsätzlich nur
scheibchenweise, damit das Ausmaß der Unfähigkeit, der Pannen, der Inkompetenz
so mancher Politiker angenehmer durch den intellektuellen Verdauungstrakt
flutscht.
Die
Deutschen hatten nach dem Krieg und erst recht nach der Wiedervereinigung
beschlossen, endgültig die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben – die
preußische Kälte und die bornierte Sturheit der Bürokratie, die Beamten
immanente Verachtung für all das, was ein Dasein als Bürgers in einem bis vor
wenigen Jahren wirklich schönen Land lebenswert machte. Wie beim katholischen
Exorzismus bei der Teufelsaustreibung war man bei der Beweisführung unseres ach
so nachahmenswerten Humanismus, der Hilfsbereitschaft und unserer lockeren
Weltoffenheit maßlos.
Deutschland
hat ein unbewältigtes Problem. Es ist permanent besorgt, die Welt davon zu
überzeugen, dass wir gar nicht so deutsch sind, wie wir es einmal waren. Denn
schon der Terminus Deutsch impliziert nach wie vor Attribute wie Fleiß,
Pünktlichkeit, Pflichtgefühl, Ordnung und Überlegenheit, mit denen – wie es in
den achtziger Jahren Herr Lafontaine öffentlich verlautbarte, auch ein KZ erfolgreich
verwaltet und geführt werden kann. All das, was man einmal zu den preußischen
Tugenden zählte, kam damit in den achtziger Jahren in Verruf.
Seither hat
man nationale Selbstwertgefühle mit Stumpf und Stiel auszurotten versucht und
stigmatisiert immer noch jene, die sich auf alte Werte und Tugenden besinnen.
Das alles mag sich in unseren Ohren verstaubt und überholt anhören, aber wie
aktuell ehemalige Stärken, Qualitäten und Eigenschaften sind, fällt dann auf,
wenn man beobachten muss, wie unsere Parteien und deren Führer Deutschland mit
Füßen treten. Der Terminus Gemeinwohl scheint in den Köpfen von Politikern
lediglich als verkümmertes Synonym für Selbstversorgung vorhanden zu sein.
Taten lassen sie vermissen.
Wie hört
man allenthalben aus berufenen Politikermündern, wenn man sich vorsichtig nach
dem Stand unserer Regierungsbildung erkundigt? Genauigkeit vor Schnelligkeit.
Diesen priorisierenden Schwachsinn muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Für mich gibt es für diese semantische Vergewaltigung drei Erklärungen. Bei der
ersten wird aus Sicht dümmlicher Metaphernklemptner Schnelligkeit implizit mit
Schlamperei, mangelnder Sorgfalt oder Fahrlässigkeit gleichgesetzt, denn
Kleingeister, vornehmlich in Parteien beheimatet, sind der Meinung,
Schnelligkeit und ein klarer Verstand würden sich gegenseitig ausschließen.
Das zweite
Motiv ist der Vorsatz. Der dumme Bürger soll diese Logik als zwingend erkennen
und somit die endlosen Grabenkämpfe um Ministerstühle als unvermeidbar, ja
sogar als notwendig in Kauf nehmen. Ein ziemlich durchtriebenes Motiv, für das
es eigentlich ein Strafverfahren geben müsste. Denn wer erklärt: „Wir müssen
nicht regieren“, der sollte nach Hause gehen und einer ehrenhaften Arbeit
nachgehen.
Die dritte
Erklärung ist schlicht die verantwortungslose und ungezügelte Habgier, die
profilneurotische Selbstdarstellung und die Wichtigkeit, die die Beteiligten
der eigenen Person beimessen. Ausgerechnet jene, die einen Staat mit Klugheit
und Weitsicht, mit Kompetenz und sozialem Engagement in die Zukunft führen
sollen, wollen sich Ämter sichern und sich damit auch auf Kosten der Bürger
bereichern. Gnadenlos, rücksichtslos und unverblümt.
Und nicht
nur das. Es ist beschämend und erschütternd zugleich, dass sich Parteien
wichtiger nehmen als das Gemeinwohl, dem sie sich verpflichtet fühlen müssten.
Parteien sind zwar Institutionen, sie werden aber von Funktionsträgern geführt,
deren Anliegen nur darin besteht, vorrangig die eigenen Belange zu befriedigen,
indem sie ihre Integrität wie Monstranzen vor sich hertragen. Derweil wird die
Regierungsbildung von den jeweiligen Gegnern einer Vereinbarung vorsätzlich
torpediert und in die Länge gezogen.
Für die Parteifunktionäre
sind programmatische Inhalte nicht etwa innere Überzeugungen, sie sind Mittel
zum Zweck für den Einkommens- und Machterhalt, sie sind nicht mehr, als heilsbringende
Botschaften, um Wähler bei der Stange zu halten oder zu gewinnen. Mit dem Verfall
von gesellschaftlichen Regeln, ging nicht nur rücksichtloses Gewinn- und Machtstreben
einher. Mehr Schein als Sein, das ist heute Überlebensmaxime von Parteiführern,
deren Vita oft genug dürftig, deren Berufserfahrung kümmerlich und deren Fähigkeiten
gerade ausreichen würden, um mit Mühe eine subalterne Stellung in einem
Unternehmen auszufüllen. Kompensiert werden diese Mängel häufig mit schamlos
geschönten Lebensläufen, die jedem Hochstapler zur Ehre gereichen würde.
Unter
Politikern scheint das verkommene Verhalten epidemisch zu sein, sich mit
scheinheiliger Sorge um die Belange unserer sozialen Gesellschaft zu kümmern
und sich vom Volk leere Versprechungen, diffuse Ankündigungen und unerfüllbare
Vorhaben vergolden zu lassen. Mehr und mehr beschleicht einen das Gefühl, man
hätte es in den Parteizentralen mit Figuren zu tun, die äußerlich ehrenhaft erscheinen, in ihrem Innersten jedoch moralisch und ethisch vollkommen verrottet sind. Sie dienen uns und unserer Gesellschaft weder als
geistige noch als politischer Vorbilder.
Wo sind sie
geblieben, unsere Tugenden, auf die unsere Väter stolz waren und Kinder sich auf sie verlassen konnten, als Leitbild dienten? Wo sind sie geblieben, unsere Werte, unsere
Identität, unser Stolz? Die Politiker haben sie nicht nur aufgegeben, sie haben
auch die einstmals verlässlichen Werte verraten und verkauft.
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