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Elf Minuten im U-Bahnhof in München

17 Uhr 33. Ich stehe am Bahnsteig der U-Bahn an der Haltestelle Odeonsplatz in München und warte auf meinen Anschluss U 3 – in Richtung Hauptbahnhof. Und während ich vergeblich nach einem freien Sitzplatz auf einem der Wartebänke suche, umwabert mich fremdländisches Sprachgut. Babylon in Bayern.

 


Jede vierte Person ließe sich, -euphemistisch gesehen und bei gutem Willen-, einem sogenannten „Bio-Deutschen“ zuordnen, wobei ich mir, was meine flüchtige Einschätzung anbetrifft, eine gewisse Fehlerquote zugestehe. Gedanklich nehme ich meine Voruteile an die Kandare und versuche meine National-Quotierung zu verwissenschaftlichen, zumal es meine Wartezeit signifikant verkürzt. 

Meine grauen Hirnzellen beschäftigen sich während meiner Beobachtungen auch mit statistischen Unwägbarkeiten. Denn unter die vermeintlich germanisch anmutenden „Bios“ dürften sich auch ein nicht zu unterschätzender Prozentsatz von Fahrgästen aus fernen Ländern mit europäischem Einschlag gemischt haben, denke ich. Beispielsweise aus Serbien, Bosnien, Slowenen, Kroatien, Tschechien, Russland und der Ukraine. Möglicherweise aber auch aus Dänemark, Finnland oder Norwegen.

Unwahrscheinlich, verwerfe ich meine Mutmaßung. Was, so frage ich mich, würde ein normaldenkender Däne, Finne oder Norweger ausgerechnet in einem heruntergekommenen Vielvölkerstaat wie Deutschland wollen? Auch die Anwesenheit von Schweizern kann ich kategorisch ausschließen, Schweizer setzen sich weder in schmutzige, deutsche U-Bahnen, noch mischen sie sich unter arme Flüchtlinge. Wenn ein Schweizer verreist, so konstatiere ich im Stillen, dann fliegt er mindestens in die Südsse oder nach Hawaii und verkehrt dort in schönen, sauberen Hotelanlagen. Keinesfalls käme es ihm in den Sinn, sich unter arme Deutsche zu mischen.

Mein Blick schweift auf die Anzeigetafel. Noch elf Minuten. Genügend Zeit, um die am überfüllten Bahnsteig stehende Menschenansammlung den verschiedenen Kontinenten zuzuordnen. Orient und Okzident lassen sich optisch nicht trennscharf unterteilen. Afrika und Europa umso leichter. Zugegebenermaßen ist bei der Vielzahl von Bronce- Braun- und Schwarztönen gerade in Grenzbereichen zahlreicher Farbnuancierung zwischen Südamerikanern, Südeuropäern oder Randbewohnern von Tunesien, Algerien oder auch Ostbengalen nicht leicht zu unterscheiden und sind bei der Bestimmung von Nationalitäten mit gewissen Unsicherheiten behaftet. 

Um meine Einschätzungen zu präzisieren, entscheide ich mich unter Einbeziehung von Haarfarbe und Physiognomie auch für olfaktorische Zuordnungskriterien. Duftnoten wie Knoblauch, Döner, Lauch und Zwiebeln beispielsweise. Sie ermöglichen es mir, Osmanen eindeutig von Österreichern und etwaige Türken von Slowenen zu unterscheiden. Allerdings mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor, weil sich dazwischen auch Griechen aus dem attischen Hinterland befinden könnten.

Die U 8 fährt ein. Türen öffnen sich. Wahre Menschenmassen schwappen aus den Waggons, schubsen, stoßen, schieben und drängeln sich durch die einsteigende Menschenmauer und werfen meine evidenzbasierten Einschätzungen über den Haufen. Die Quote von Senegalesen, Eritreern, Marokkaner, Syrern, Burkina Faso und Nigerianern erhöht sich sprunghaft und geht eindeutig zu Lasten von mutmaßlichen und sich in deutlicher Minderheit befindenden Bürgern aus Deutschland. Mehrere Italiener und ein Spanier schieben mich ungestüm zur Seite, um in die U 8 in Richtung Scheidtplatz einzusteigen.

Zugegeben, kurzfristig war ich geneigt, auch Hamburger, Ostfriesen, Sachsen, sowie Bürger aus dem Ruhrgebiet jenen Ausländern zuzuschlagen, die in Bayern nichts zu suchen haben und daher per se als Eindringlinge gelten. Doch eine solche Differenzierung erscheint mir dann doch nicht objektiv genug zu sein, und ich konzentriere mich wieder auf das kaum identifizierbare Völkergemisch. Schwangere Mummies mit gewaltigen Hinterteilen, Kopftuch, 5 Kindern und einem Kinderwagen lassen sich nahezu spontan zuordnen. Auch dunkelhäutige, schlacksige, junge Männer mit neuesten Handies und protzigen Halsketten kann man ethnisch schnell zuordnen. Sie kann man von einigen, deutschen Hartz-IV-Empfängern leicht unterscheiden, zumal sie hinsichtlich ihrers äußeren Erscheinens wegen eher verelendet wirken.

Sprachfetzen aus dem Baltikum und einige französische Gesprächsfragmente neben mir bringen mich jedoch völlig aus dem Konzept, zumal die Urheber der frankophonen Sprache rabenschwarz sind und vermutlich aus dem Gabun oder dem Tschad stammen. Ich fremdle ein wenig. Je länger ich am Bahnsteig verharre, desto mehr bezweifle ich, dass ich mich gerade in München aufhalte. Wer weiß, vielleicht liege ich im Bett und habe gerade einen Alptraum, der mir eine verwahrloste U-Bahn-Station im südlichen Kamerun vorgaukelt.

Und während ich versuche festzustellen, ob das, was ich sehe, die Realität oder eine Fata Morgana ist, bahnen sich zwei skurrile Erscheinungen den Weg zur Bahnsteigkante. Irritiert taxiere ich die Fremdländer. Krachlederne, Haferlschuhe, weißblaue Wadenwärmer, Hut mit Gamsbart und einer Sprache, die kein Schwein versteht. „Schaug’da dees Gschwerl ooh... Scheiß Glump, varreckts“, flucht einer und wirft einem Einwohner Arabiens einen angeekelten Blick zu. Dem Klang nach kann ich indisch, hebräisch und taiwanesisch sofort ausschließen. 

Misstrauisch beäuge ich die beiden unter meiner Hutkrempe. Jetzt bin ich mir sicher: Kleidung eindeutig oberbayerisch. Aber wer weiß schon, ob das was man sieht, auch tatsächlich echt ist. Heutzutage muss man mit allem rechnen, sogar mit reichen Ukrainern, die in Deutschland Sozialhilfe erhalten. Sogar mit Oligarchen, die Opfer deutscher Sanktionen wurden und jetzt in München öffentliche Verkehrsmittel benutzen müssen.

Noch drei Minuten bis meine Bahn kommt. Hinter mir diskutieren fünf kräftige Polen lautstark mit einigen Jugendlichen. Europäer, wenigstens..., schießt es mir erleichtert in den Sinn. Sympathisch überdies, zumal sie drauf und dran sind, der Gruppe von grünen Umweltschützen auf Maul zu hauen. Skandierend halten diese Pappnasen provozierdene Transparente in die Höhe auf denen zu lesen ist, dass Polens Kohlekraftwerke weltweit die Luft versauen. Nun ja, denke ich, ein paar Zähne weniger, und schon werden die grünen Weltenretter polnische Kraftwerke nie mehr vergessen und ihnen die stickige Luft am Bahnsteig egal sein. Ich wende mich um.

Mein Blick fällt auf eine Horde Japaner, die johlend und sichtlich amüsiert die Münchner Nationalhymne anstimmen. „In Muncha steh' ei Hofbläuhaus...“. Gleich neben ihnen lassen drei besoffene Ukrainer eine Vodkaflasche kreisen und torkeln beim Dealen mit 9-Euro-Tickets unkontrolliert in Richtung eines überquellenden Mülleimers. Ich unterbreche meine Volkszählung, als mir einer von denen beinahe auf die Schuhe kotzt. Mir reichts. Doch die schwerste aller Prüfungen wartet noch auf mich. Die Fahrt zum Hauptbahnhof. 

Ich hoffe, der Alptraum endet bald. Ich erwache, stehe in Wahrheit auf einer Blumenwiese irgendwo am Karwendelgebirge und atme frische Luft. Die U 3 fährt ein. Türen öffen sich. Ich steige ein, blicke mich um und stelle fest. Deutschland liegt seit neuestem nicht in mehr Europa, sondern irgendwo zwischen Uganda, Südsudan und Ankara. Leise flüstere ich mir selbst zu: Ich habe mich einfach nur verirrt..., aber das wird schon wieder...

 

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