Während ich am Fahrkartenschalter wartete, hing ich meinen Gedanken nach. Natascha, die süße Schwarzhaarige aus dem Chat hatte mich nach Stralsund eingeladen. Ich könne bleiben, solange ich wolle. Ihr säuselndes Timbre in der Stimme war nicht nur vielversprechend, sie trieb mir auch die Gänsehaut auf den Rücken. Um ein Haar wäre sogar mein Blut in Wallung geraten.
Und nun stand ich
im Hauptbahnhof München-Reisezentrum. Entschlossen trat ich an den Schalter und
blickte in das mürrische Gesicht meiner Reiseberaterin. Eine füllige Blondine,
nicht unsympathisch, mit geröteten Pausbäckchen, einem lustigen Pferdeschwanz
und einem niedlichen Schmollmund, blickte mich auffordernd an. »Bitte schön...!«
»Einmal München Stralsund.«
»Hin und zurück?«
»Nein, einfach.«
»Erste oder zweite Klasse?«
»Zweite,« antwortete ich knapp.
»Wie wollen Sie fahren?«
»Mit dem Zug.«
Die Blonde verzog
keine Miene, strich mit einer fahrigen Geste eine widerspenstige Strähne aus
dem Gesicht und fuhr unbeirrt fort: »ICE, IC, Interregio, Schnellzug oder
Regionalbahn?«
»ICE!«
»Sitzplatzreservierung?«
Ich überlegte
kurz. »Glauben Sie, das wäre notwendig?«
»Besser ist es. Der Zug wird heute voll.«
»Hm.... Geht auch Fensterplatz?«
Sie nickte und
hämmerte die Daten in die Tastatur, dann hielt sie inne und blickte auf. »Wann
wollen Sie fahren?«
»Mit der nächsten Verbindung.«
»Der ICE geht um
11 Uhr 39 aus Gleis acht.«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Noch gute15 Minuten! Glück gehabt, dachte ich. Ich würde am frühen Abend in Stralsund ankommen. Natascha und ich würden also noch den ganzen Abend vor uns haben. Und was für einen…!
Hinter mir
räusperte sich jemand ungeduldig. Ich wandte mich um. Ein Herr mit gehetzter Miene zog ein ungnädiges Gesicht. Ich lächelte unverbindlich und raunte: »Bin
gleich soweit.«
»Zweihundertfünfundsiebzigfünfundzwanzig,«
tönte es von vorne.
»Türkische Lira«, entfuhr es mir
spontan.
»Euro!« Wie ein versteinerter Monolith
thronte der pausbäckige Pferdeschwanz auf dem Dreh-Sessel und starrte mich
emotionslos an.
»Für das gleiche Geld kann man
heutzutage drei Mal nach Palermo und zurückfliegen!«
»Wenn Sie früher gebucht hätten...!«
Sie ließ den Satz unvollendet…
»Was wäre dann gewesen?«
»Mit Bahn-Card, Frühbucherrabatt und Rentnerausweis sparen Sie 65 Prozent.«
Die Bezeichnung "Rentner" traf
mich wie ein Kugelblitz. Ich fühlte, wie sich mein Gedärm in heftigen Wellen kontrahierte. Ich
atmete tief durch. »Sehe ich etwa aus wie ein Rentner?«, zischte ich böse.
»Nein. Natürlich
nicht. Ich meinte ja nur...!«
Weshalb wurde ich das Gefühl nicht los, dass ihr „natürlich nicht“ wie ein „klar doch“ geklungen hatte?
Das Wort Rentner
eröffnete mir einen völlig neuen Aspekt der Heimtücke einer Bahnangestellten.
Meine anfänglich freundlichen Gefühle für die Dame vor mir verwandelten sich in
reservierte Distanz. »Was kostet die einfache Fahrt ohne Bahn-Card, mit
Frühbucherrabatt, ohne Rentennachweis und Reservierung im Raucherabteil?«
»An welchem Tag?«, erwiderte die Pausbäckige wie aus der Pistole geschossen.
Allmählich ging
mir ihre Fragerei auf die Nerven. Meinem Hintermann auch. »Nächsten Samstag,«
knurrte ich, um irgendetwas zu sagen. Natascha würde schwer enttäuscht sein,
wenn ich meinen Besuch verschob.
»Gleiche Uhrzeit?«
»Ist mir egal.«
Wieder blickte sie
auf den Bildschirm. »Zweihundertneunundzwanzig Euro und 40 Cent.«
»Wieso macht das nur 36 Euro weniger
aus?«
»Der Zug ist beinahe ausgebucht.
Deswegen kommt ein Sonderbelegungsschlüssel in Anrechnung. Ermäßigungen sind
leider kontingentiert. Der nachfolgende Zug um 13 Uhr 55 ist preiswerter.«
»Und
was kostet der?« Mein verbindliches Lächeln misslang. Der Rentner-Rabatt lag
mir immer noch schwer im Magen.
»Zweihundertneunundneunzig Euro. Der Zustieg in Ulm 14 Uhr 23, Gleis drei. Sie brauchen aber zusätzlich eine Fahrkarte für den Interregio. Von München über Augsburg ab 11 Uhr 57 mit Umsteigen. Weiterfahrt nach Ulm im Regionalexpress um 13 Uhr 17, Ankunft 14 Uhr 02 Gleis neun. Ich kann’s Ihnen ausdrucken, wenn sie wollen.«
Ich wollte nicht.
Meine Ungeduld wuchs an zur Verärgerung. Außerdem fühlte ich mich bedrängt. Die
Meute hinter mir solidarisierte sich und entwickelte sich allmählich zum
Volkszorn. »Und wenn ich -, sagen wir in drei Tagen -, um die gleiche Zeit mit
einem Intercity nach Stralsund fahren wollte, ist das dann billiger?«
»Theoretisch ja…. Aber um diese Zeit
verkehrt keiner...!«
»Auf eine Stunde früher oder später
soll’s mir nicht ankommen.«
»Warten
Sie, ich sehe nach.« Ich wandte mich um. Die Reihe hinter mir war inzwischen
zur endlosen Schlange angewachsen und verlor sich am Horizont - knapp hinter dem Bahnsteig 37. Der gut
gekleidete Herr dirket hinter mir hingegen war wütend.
»Sie hat es gleich«, flüsterte ich ihm mit verständnisheischender Miene zu, während ich von vorn hörte:
»Um 12 Uhr 17 ginge
es. Allerdings mit umsteigen in...«
»Was kostet mich der Spaß,« fiel ich
ihr ins Wort.
»Zweihundertzweiundsechzigfünfundneunzig.«
»Sagen Sie, bin ich unter die Räuber gefallen?«
Zum ersten Mal
blickte mich die Blondine mit einem Anflug hämischer Schadenfreude an. »Mit unserem
Angebot Plan & Spar wäre es erheblich günstiger!«
»Sagen Sie mir, wie ich am meisten
spare und trotzdem nach Stralsund komme.«
»Wir haben da gerade eine Aktion! Buchen
Sie jetzt und fahren Sie in 7 Tagen! Sie sparen 40 Prozent. Allerdings ist das
Ticket zuggebunden. Wenn Sie am Reisetag Ihre Reisewünsche ändern und einen
anderen als den gebuchten Zug nutzen, wird eine Stornogebühr von 50 Euro
fällig. Ich empfehle Ihnen daher eine Plan & Spar-Zusatzkarte. Sie kostet die
Differenz zwischen dem Plan & Spar-Preis und dem Normalpreis zuzüglich
einer Gebühr von 15 Euro.«
»Aha! Und wie hoch ist die Differenz?«
»Neun Euro.«
»Aber da ist der Gesamtpreis immer noch
6 Euro teurer!«
»Ja schon, aber bei einer spontanen
Umbuchung entfällt der ursprünglich gewährte Nachlass auf den Normalpreis
zuzüglich der Stornogebühr. In dem Fall zahlen Sie beim Kauf der Zusatzkarte
ein Siebtel weniger als der Ursprungspreis betragen hätte.«
»Von welchem Ursprungspreis reden Sie überhaupt?«
Die Dame am
Schalter schaute mich verblüfft an. Dann fasste sie sich und keifte: »Wollen
Sie nun fahren oder nicht?«
»Natürlich will ich, wenn Sie mir
sagen, wie viel mein Nachlass ausmacht.«
»Im Durchschnitt erzielen Sie eine Einsparung von drei Zwölftel des normalen Fahrpreises bei einer Spontanfahrt in Sondertarifzonen ohne Rentnerermäßigung, vorausgesetzt sie besitzen eine Bahn-Card.«
In Anbetracht des
bedrohlichen Gemurmels in meinem Rücken bildete sich Angstschweiß unter meinen
Achselhöhlen und mir wurde warm.
»Sie können auch im Gruppentarif ohne
Bahn-Card sehr preisgünstig fahren, wenn Sie mehr als 5 Personen sind,
gleichzeitig unser Plan & Spar-Paket nutzen und mindestens drei Werktage im
Voraus buchen.
»Ich
fahre alleine und möchte ich mich sofort entscheiden! Verstehen Sie? Ich nehme
Ihren Planbuchungsrabatt ohne Rentnernachlass mit Spartarif in Kombination mit
einem Fensterplatz in Anspruch! Und zwar spontan, wenn ich bitten darf.«
»Ich verstehe Sie genau. Deswegen müssen Sie nicht gleich laut werden.«
Ich versuchte mich
zu sammeln. Die heißen Nächte mit Natascha konnte ich für dieses Wochenende
vergessen, wenn das so weiterging. »Also…, wie viel jetzt?«
»zweihundertdreiundzwanzig Euro und
sechsundsiebzig Cent.«
Anton kam mir in
den Sinn. Mist! Kommende Woche hatte ich niemanden, der auf ihn aufpasste. Ich
würde ihn mitnehmen müssen. »Ich nehme einen Hund mit. Kostet er auch etwas?«
»Großer Hund? Mittlerer Hund? Kleiner
Hund?«
»Wie man’s nimmt.«
»Was für eine Rasse?«
»Das weiß niemand. Kleiner als ein Pony
aber größer als ein Neufundländer. Und sehr alt!«
»Das Alter des Hundes spielt bei der
Fahrpreisermittlung keine Rolle.«
»Aber bei mir spielt es eine Rolle, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe?«
Ein kräftiger Arm
wischte mich zur Seite. Der distinguierte Herr hinter mir befand sich im
Stadium fortgeschrittener Cholerik. Seine Stirnadern waren geschwollen und
dessen Gesichtsröte purpurfarben. »Würden Sie gefälligst Ihre Hundegespräche
woanders führen. Ich will heute noch einen Zug besteigen!«
»Bis vor wenigen Minuten wollte ich das auch, werter Herr!«, rüffelte ich ungnädig zurück. Beherzt erkämpfte ich mir meinen Schalterplatz zurück.
Erstaunlicherweise
kam mir die blonde Reiseberaterin zu Hilfe. »Wenn Sie es eilig haben, gehen sie
bitte an den Express-Schalter.« Sie deutet nach links. Wir blickten beide
hinüber. Die endlose Menschenreihe vor dem angegebenen Schalter verlor sich am Ausgang
des Bahnhofs. Ich grinste schadenfroh.
»Unverschämtheit!«, keifte er mit sich
überschlagender Stimme.
»Was
macht der Kerl dort vorne so lange?«, tönte es hinter mir. »Ich warte schon
eine geschlagene halbe Stunde!« Ich wandte mich wütend um. Der Blick einer
giftigen Natter hatte sich in meinen Augen festgebissen. Ein androgynes Wesen,
Ende Zwanzig in nadelgestreiftem Business-Dress, seriöser Hornbrille und
Aktentasche! Vermutlich weiblich.
»Der Kerl vor Ihnen versucht eine Fahrkarte zu erstehen, werte Dame oder was immer Sie sind!«, giftete ich zurück und widmete mich erneut meinem Kauf-Ersuchen.
Der Herr mit
Bluthochdruck hatte mittlerweile entnervt aufgegeben und war in der
Menschenmenge verschwunden. Vermutlich würde er nächste Woche fahren. Ich
wiederholte meine Frage: »Also! Was kostet der Hund?«
»Die Hälfte des normalen Fahrpreises.
Aber dann benötigen Sie in jedem Falle eine Platzreservierung.«
»Für den Hund auch?« erkundigte ich
mich staunend.
»Nein,« erwiderte sie und lächelte zum
ersten Mal.
»Gut. Wir nehmen den Zug. Wann dürfen wir
fahren?«
Abermals widmete
sich die Reiseberaterin ihrem Computer. »Da haben wir’s.« Mein Blondchen schien
glücklich zu sein und zwitscherte: »Am Dienstag, den 23.05.ten um 20 Uhr 37 aus
Gleis zwölf, mit Umsteigemöglichkeit in Frankfurt/Main um 22 Uhr 28. Von dort
aus geht es weiter vom Westbahnhof. Sie haben Anschluss nach Kassel um 22 Uhr
40, Gleis vier.
»Ehe Sie weiterreden..., ich muss also
vom Hauptbahnhof zum Westbahnhof. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Wie
weit ist es bis dorthin?«
»Mit dem Bus 17 Minuten.«
»Aber den Zug erreiche ich doch nie und
nimmer!
»Ja, es ist knapp, aber ich kann’s
nicht ändern.«
»In meinem Fall ist knapp zu spät!«
»Am besten ist,
Sie nehmen ein Taxi!«
»Und wenn gerade keines da ist...? Sie wissen selbst, wie es nachts an Bahnhöfen zugeht.«
Sie zuckte mit den Achseln. Ich überschlug im Geiste die Taxikosten. Die Fahrt käme mich mindestens 30 Euro. Bevor ich sie darauf aufmerksam machen konnte, fuhr sie fort: »Wie gesagt, 22 Uhr 40 ab Frankfurt West, Ankunft Kassel um 0 Uhr 21. Von dort aus weiter um 0 Uhr 39 mit dem Eilzug nach Rostock. Sie haben Anschluss um 2 Uhr 49 nach Stralsund. Ankunft um 5 Uhr 13 Bahnsteig drei.«
Ich fühlte, wie
mein Blut mit circa 180 Sachen in die Aorta schoss. »Hören Sie, meine liebe...!«
»Ich bin nicht
Ihre liebe! Mein Name ist Rösrath. Hier...!« Sie deutete auf das Schild auf dem
Tresen.
»Verehrte Frau Rösrath! Erstens wollte ich möglichst bald nach Stralsund und nicht erst in 16 Tagen. Zweitens beinhaltet Ihr Spar-Angebot eine 4-malige Unterbrechung auf windigen Bahnhöfen, einen Dauerlauf mit Gepäck und Hund über volle Bahnsteige. Und drittens eine Taxifahrt quer durch Frankfurt. Wehe der Fahrer hat kein Kleingeld zum Rausgeben!«
»Es
ist die preiswerteste Möglichkeit. Genauso, wie Sie es wollten! Zweite Klasse
einfach, mit Hund, Plan & Spar-Tarif, ohne Bahn-Card inklusive
Frühbuchrabatt und Spätreise-Ermäßigung. Zweihundertsiebenundsiebzigfünfundneunzig
Euro.«
»Das
nenne ich Vollgas im Leerlauf. So wollte ich es garantiert nicht, Gnädigste!«
»Wie
wollten Sie es denn?«
»Ohne
nächtlichen Schweinsgalopp.«
»Nehmen
Sie den ICE, der Nächste geht in 1 Stunde und 40 Minuten.«
Nun hatte sie mich soweit! Während mir von hinten
bereits Prügel angedroht wurde, unterzog mich vorne die blonde Reiseberaterin
einer Gehirnwäsche. Mit versagender Stimme fragte ich: »Hat ihr Preisschlager
wenigstens einen Liegewagen?«
»Hat
er. Kostet aber einen Zuschlag von 47 Euro 50, allerdings ohne Hund.«
»Und
was kostet Liegewagen mit Hund?«
»Hunde
sind in Liegewagen nicht erlaubt. Das geht nur mit Schlafwagen als
Einzelkabine. Das kostet aber den doppelten Fahrpreis.«
Meine Nerven lagen blank und die Stimmungslage der
Meute in meinem Rücken wies auf ein unmittelbar bevorstehendes Attentat auf
mich hin. »Aha...! Mit einer mir völlig unbekannten Person im selben
Liegewagen geht. Mit meinem Hund, der mich seit Jahren kennt, das geht
nicht?«
Sie schüttelte missbilligend den Kopf und grinste
unverschämt.
»Na gut! Zweimal Schlafwagen.
Aber schnell, bitte.«
»Moment,
ich muss Ihnen eine neue Verbindung heraussuchen! Es gibt da einen
Overnight-Zug bis Hamburg, leider nur mit Aufschlag. Ihr ausgewählter Zug hat
keine Schlafwagen.«
»Danke! Nicht mehr nötig.« Wütend knallte ich
Nataschas Telefonnummer auf den Schaltertresen.
»Was
soll ich damit?«
»Die Dame anrufen, die mich erwartet. Teilen Sie ihr
mit, Stralsunder Liebesnächte seien gestrichen, ich bleibe mit meinem Hund zu
Hause.«
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Ein typischer Claudio - sehr treffend beschrieben. Ich habe mir alles bildlich vorgestellt und herzhaft gelacht
AntwortenLöschenDie Zahl der Verspätungen bei der Bahn (ICE) hat die 50% Grenze erreicht. Dafür klappt die Auszahlung der Boni jedes Jahr pünktlich. Das sollte uns doch froh und munter stimmen....oder ähnlich.
AntwortenLöschenRichtig, der Bahn-Vorstand hat sich insgesamt 5Mill. € bewilligt . Wofür eigentlich ?
LöschenDer tägliche Wahnsinn Bahnreisender. Ganz neues Vorhaben, Bahncard nur noch per App.
AntwortenLöschenKonzernunternehmen Deutsche Bahn AG – Steuermittel – Staatsbeteiligung – Investitionen DE – Investitionen Ausland – Aktionäre – Manager – Firmenstrategie. „Doppel-Wumms“.