Pünktlich 8 Wochen vor Ferienbeginn tituliert der Corriere de la Sera: „Italien kämpft nach Corona mit der die Pest mit Bierbauch“. Deutsche Urlauber, fallen endlich wieder über unsere Badestrände her wie einst die Hunnen über das Römische Reich.
Die blassen Teutonen aus Gelsenkirchen, Bottrop und Wanne-Eikel jedoch haben sich optisch, sprachlich und in Hinsicht des Verhaltens stark verändert, worauf ich später noch eingehen werde. Nun ja, immerhin steigen die Buchungen in den Hotels. Wir dürfen uns wieder auf die Gäste freuen.
Nun leben meine Verwandten nicht an den überfüllten Badestränden von Rimini, Grado oder Caorle, sondern in einem der unzugänglichen Hänge des Cinque Terre. Ligurien. Der Landstrich ist eine Enklave für reisende Individualisten mit Fachabitur, die Dörfer Manarola, Vernazza oder Monterosso, sie sind Ziele für woke Studiosus Reisende und ökologisch geschulte Entdecker und Insider aus Nordrhein-Westfalen. Sandige Buchten, verträumte Strände und kilometerlange Promenaden? Fehlanzeige!
Tangaschönheiten oder barbusige Blondinen, Stringtangas und von sengender Sonne knusprig getoastete Hinterteile sind die Ausnahme. Stattdessen Steilwände, senkrecht abfallende Felsstürze und Dörfer, die sich wie Schwalbennester ins Gestein krallen. Cinque Terre wird von Authentizitätsfanatikern heimgesucht. Sie landen schiffsweise in den winzigen Häfen an – sechs Monate lang täglich, im Dreißig-Minuten-Takt. Auch sonntags. Denn Autos mit fremden Kennzeichen sind hier untersagt.
Und dann kommen sie. Zahlende Schierlingsbecher in Kohortenstärke! Allerdings, um es gleich klar auszusprechen: Wir nehmen nur deren Geld, den Schierling dürfen die Deutschen behalten, dafür sind dafür prädestiniert. Um es klar zu sagen: Wir Italiener liegen auf jeder erdenklichen Lauer, zumal wir Touristen aus dem Norden mit Geld bewaffneten Besatzern gleichsetzen. Glücklicherweise haben auch Inflation und Energiepreise dazu geführt, dass die meisten spätestens nach 14 Tagen unser Land wieder verlassen. Doch zurück nach Vernazza und den Schiffsverkehr.
Unter den Ankömmlingen aus dem Norden befinden sich immer öfter eine hartgesottene Spezies bunter Vögel, zumeist nebenberufliche Pädagogen, semiprofessionelle Klimaexperten, Öko-Fetischisten und gendernde Grünwähler, die wir Italiener besonders lieben. Beispielsweise Typen wie Helge, ein romanophiler Berufsschullehrer mit Hang zum Typischen und Unverfälschten.
Helge kennt Italien besser als jeder Italiener, zumal er seinen Reiseführer sowie die flankierende Begleitliteratur für seine Exkursionen mit einem gelben Marker bis ins Detail durchgearbeitet hat. Als Lateiner fürchtet er weder regionale Dialekte noch sizilianische Redewendungen, die nur in den Bergen gebräuchlich sind. Selbstredend hat er „den kleinen Sprachführer“ dabei – für Notfälle – falls der Fischer aus Monterosso beim Plusquamperfekt Konjunktiv des unregelmäßigen Verbs „audire“ verwirrt den Kopf schüttelt.
Helge ist stets auf der Suche nach dem ultimativen Original, nach dem unberührten Ort, wo der Einheimische noch völlig unbefingert von touristischem Entdeckerdrang arbeitet, wohnt, lebt und liebt, so, wie er es seit ein paar Tausend Jahren tut. Schon aus diesem Grund haben sich meine Verwandten zwei bissige Rottweiler angeschafft und einen drei Meter hohen Elektrozaun um das Grundstück gezogen. Helge kennt zwar nicht das unwegsame Sträßchen zum Haus meines Onkels, aber dafür, – und schon Jahre vor seiner Ankunft, unsere örtlichen Sitten und Gebräuche genauer als wir selbst.
Er weiß auch, wie sich die lokalen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme des unzugänglichen Landstrichs am perfektesten lösen lassen. In Sachen Kochrezepte regionaler Küche und der Beurteilung heimischer Weine übertrumpft er sogar Mama Rosetta aus Viareggio. Helge findet alles, weiß alles, kann alles und liebt es, uns Italienern gute Ratschläge zu erteilen! Er durchstreift selbst die einsamsten Winkel seines Urlaubsgebietes, kehrt in Locandas ein, in denen nicht einmal mein Hund essen würde und gibt sogar jenen Urlaubern Tipps, die sie gar nicht hören wollen.
Er ist der typische Alleinreisende, sitzt wie alle anderen genussfreudigen Urlauber in einem der zahlreichen Cafés. Im schwäbisch gefärbtem italienisch ordert er selbstsicher: „Hallo, sie...! Henn'se au`n Latte Madschiadoo?“ Seine sprachliche Überlegenheit gibt ihm ein Gefühl der Souveränität und er belächelt mit süffisantem Lächeln die in Scharen vorbeiziehenden Landsleute. Routiniert dreht er sich eine Zigarette aus heimischer Tabakproduktion und beobachtet mit dem Habitus eines echten Insiders das bunte Treiben.
Im rhythmischen Takt pendelnder Ausflugsschiffe ergießen sich gewaltige Wogen verschwitzter Leiber auf die Hafenmole, wälzen sich durch die engen Gassen von Vernazza, reißen alles nieder, was nicht gemauert, verdübelt oder angeschweißt ist, um nach einer halbstündigen Stadtdurchflutung in die Bestuhlung der Cafés an der Piazza zu schwappen. Es verbleiben den transpirierenden Teutonen knappe zehn Minuten, um eine Cola für sechs Euro fuffzich hinunterzustürzen und sich dann in die endlose Warteschlange am Hafen einzureihen.
Kurz bevor sich Helge einschifft, um uns endlich wieder zu verlassen, findet er Dank untrüglicher Spürnase in einer düsteren Seitengasse einen unscheinbaren Kellerladen mit grellbunt bemalten Tonschälchen. Allerdings ist ihm entgangen, dass kurz zuvor eine Splittergruppe, mit Jutetaschen versehener Birkenstockträgerinnen die Bude restlos gefleddert hatten. Ein unscheinbarer verstaubter Teller, handbemalt und in krakeliger Schrift vom Künstler signiert, lehnt in einer düsteren Fensternische. Zweifellos ein vergessenes Kleinod aus dem 18ten Jahrhundert. Er kauft, zahlt freudig einen unverschämten Preis für das einzigartige Exemplar südländischer Handwerkskunst.
Das Lächeln des mit allen Wassern gewaschenen Insiders umspielt seine Lippen, als er die Rarität souverän in seiner Tasche verstaut, während Salvatore Moneti, gleich, nachdem Helge die düstere Tonschalenkatakombe verlassen hatte, für die nächste Ladung Kunst affiner Urlauber eifrig die Bestände mit „echt“ antiken Schalen und Vasen auffüllt.
Helge hat keinen Bierbauch, in diesem Punkt widerspreche ich dem Corriere. Er ist ein ruhiger und verträglicher Zeitgenosse, gebildet und informiert. Trotzdem regt er sich über das Coperto auf, weil er in einer vermeintlich preiswerten Osteria an einem blanken Holztisch "Spaghetti al’ Olio" und ein „Minerale“ für 29 Euro konsumierte. Geschickt lässt er Besteck, Zahnstocher und Salzstreuer in seinen Tragebeutel gleiten und verschwindet ohne Trinkgeld zu hinterlassen.
Doktor Laszlo Hrdlìzkca, Hobbyethnologe aus Wienerneustadt erreicht soeben mit Familie – freudig erregt - die Stadtgrenze von Vernazza. Er hat die für Touristen gesperrte Landstraße unbehelligt und trotz Androhung saftiger Strafen unentdeckt bewältigt. Jetzt versteckt er eilig seinen überdimensionalen Campingbus im örtlichen Parkhaus. Er lacht sich ins Fäustchen, weil er einem schläfrigen Posten der Carabinieri ein Schnippchen geschlagen hat. Doch Hrdlìzkca irrte sich. Der Polizeiposten hat nur so getan, als sehe er nichts und hat seine Falle perfekt gestellt.
Im Hochgefühl anstehender Stadtbesichtigung treibt er Frau und drei halbwüchsige Gören in Richtung Hafen. Sich richtig Zeit nehmen, heißt seine Devise, völkerkundliche Besonderheiten und Rieten begutachten, den romantischen Hafen mit seinem urwüchsig-pittoresken Charakter durchstreifen und das Hochgefühl auskosten, einen mediterranen Geheimtipp ungestört besichtigen zu können. Noch ahnt er nicht, dass der kleine Stadtkern von Vernazza wegen des touristischen Ansturms zu Fuß kaum zu durchdringen ist. Er weiß auch noch nicht, dass die Gebühren des Parkhauses für sein Wohnmobil der Marke „Big Traveller“ etwa zwei Drittel des jährlichen Gemeindehaushaltes von Vernazza ausmachen!
Ab 19 Uhr 30 kehrt Ruhe ein. Doktor Laszlo Hrdlìzkca sitzt völlig erschöpft mitsamt seiner missmutigen Familie in einem der verwaisten Straßencafés. Das letzte Schiff der weißen Flotte pflügt mit sechzehn Knoten und teutonischem Ballast dem Heimathafen Livorno entgegen. Nur Laszlo samt Anhang muss in der Stadt bleiben, weil er am nächsten Morgen eine telegrafische Geldanweisung seiner Bank erwartet. Er konnte "Big Traveller" im Parkhaus nicht auslösen.
Lauer
Wind vom Meer säuselt über die Hafenanlage. Man spricht nur noch italienisch. Auf der
Piazzetta kosten Montepulciano rosso und Espresso nur noch ein Drittel so viel
wie tagsüber. Der Einheimische und auch mein Onkel, sie können wieder befreit
durchatmen. Die Teutonen haben für ein ordentliches Bruttosozialprodukt für die
Gemeinde gesorgt. Jetzt sind wir nicht nur Helge, den deutschen Insider wieder
los, sondern auch diesen Herrn Hrdlìzkca und seine lästige Familie und grinsen
uns eins, weil er einen Kleinkredit der Übernachtungskosten wegen bei seiner
Bank aufnehmen muss.
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